„Luna und die Schneeeule“
TEIL II
Die Eule starrt Luna immer noch an und bewegt sich keinen Millimeter. Es wirkt, als wäre das Tier in eine Starre verfallen. Plötzlich macht sich in Luna ein Gefühl von Geborgenheit breit. Sie nimmt Wärme, Vertrauen und Freude in ihrer Brust wahr. Das Mädchen weiß sogleich, dass ihr die Eule wohlgesonnen ist. „Du kannst es“, meint das weiße Krafttier mit einer Ruhe, die Luna einhüllt. In ein Gefühl von Frieden. Ein Gefühl von Schutz. Ein Gefühl von Sicherheit. Als das Tier mit den Flügeln anfängt zu flattern, als ob es sich für den Abflug bereit machen würde, wird Luna unruhig: „Was meinst du?“. Doch ehe sich das Mädchen versah, war die Schneeeule im aufsteigenden Nebel verschwunden. Etwas enttäuscht und doch gestärkt von dieser schönen Begegnung machte sich Luna zurück auf den Nachhauseweg. Sie wünschte sich, das wunderbare Gefühl, welches sie beim Anblick der Schneeeule verspürte, könnte für immer bleiben. So friedvoll und in ihrer Mitte hatte sich das zerbrechliche Mädchen schon lange nicht mehr gefühlt. Zerbrechlich war Luna irgendwie immer schon. Nicht nur ihre feine Wahrnehmung und regelmäßige Gefühlsausbrüche, sondern auch ihre gesamte Erscheinung tauchten sie für die Außenwelt in ein zerbrechliches Licht. Und doch hatte Luna etwas Feenhaftes und Kraftvolles an sich. Vielleicht war dies der Grund, warum sie Menschen mit Problemen und Traurigkeit magisch anzog. Vielleicht erhofften sich diese Personen eine Art Zauber von ihr. Eine Art zauberhafte Heilung. Zurück in ihrer Wohnung angekommen, versuchte Luna herauszufinden, was die Schneeeule ihr mitteilen wollte. Nachdem sie sich stundenlang den Kopf darüber zerbrochen hatte, beschloss sie sich Rat bei einer alten Frau zu holen, die dafür bekannt war, hellsichtige Fähigkeiten zu haben. Die Hellseherin erklärte Luna: „Eulen sind besondere Krafttiere. Sie stehen für Weisheit und Klugheit. Eulen helfen dir dabei, deine innere Weisheit zu entdecken und auf deine Intuition zu vertrauen. Sei dankbar für diese Begegnung, denn nun weißt du, dass du auf deine innere Stimme vertrauen darfst.“ Das Mädchen bedankte sich bei der weisen Frau. Trotzdem konnte sie mit dieser Informationen nicht viel anfangen. „Innere Stimme – was soll das sein?“, fragte sich Luna in den darauffolgenden Tagen. Sie konnte die Schneeeule einfach nicht vergessen und war sogar am Arbeitsplatz mit den Gedanken immer bei dem weißen Tier.
Da dauerte es nicht lange und Luna passierte ein Fehler nach dem anderen. Ihr Chef war verärgert und holte das Mädchen zu sich ins Büro. Währenddessen er mit einem hochroten Kopf vor sich hin schimpfte, tauchten in Luna die Worte: „Ich hasse diesen Job“ auf. Sie nahm das Geschimpfe gar nicht wahr. Wie sehr sie sich auch versuchte auf ihren Chef zu konzentrieren, die Stimme in ihrem Kopf wurde immer lauter. Da platzte es aus Luna heraus: „Ich hasse diesen Job“. Ihr Chef verstummte, blickte sie verwundert und mit großen Augen an. Luna wiederholte: „Ich hasse diesen Job“. Sie packte ihre Tasche und fügte hinzu: „Ich bin weg und werde auch nicht mehr wieder kommen“. Als die Bürotür hinter dem Mädchen zufiel, kullerten dicke Tränen über ihre Wangen. Doch es waren keine Tränen der Traurigkeit. Sie waren warm und fühlten sich gut an. Es war ein Gefühl von Erleichterung. Luna wusste, sie hatte die richtige Entscheidung getroffen. Zuhause angekommen räumte sie den Briefkasten aus. Nichts als Rechnungen. Da überkam Luna die Angst: Wie sollte sie nun ihr Leben finanzieren? Die Wohnung? Das Auto? Lebensmittel? Vielleicht hatte sie doch zu voreilig reagiert. Hektisch kramte das Mädchen ihr Handy aus der Tasche hervor, um den Chef anzurufen und um alles rückgängig zu machen. Doch da ertönte eine Stimme in Lunas Kopf: „Nein!“. Das Mädchen verspürte Gänsehaut am Rücken. Sie konnte nicht mehr zurück.
Fortsetzung folgt…